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DER SCHREI

Die Mutter von Lillah Melodie, gestorben am Ende der Schwangerschaft. Text veröffentlicht im JOURNAL ARC-EN-CIEL Herbst 1998.



Der Wunsch, meinen wütenden Schrei aus tiefstem Inneren herauszulassen, ist stark. Ich höre ihn widerhallen, scharf, verletzend, tief in meinem Wesen, und dennoch hört er dort auf, ohne einen Weg zu finden, sich auszudrücken. Trotz meines geöffneten Mundes und aller Geräusche, die daraus kommen, findet dieser Schrei keinen Weg. Er stößt an dieses riesige Gebirge des Schmerzes, das meine Brust erfüllt, seit Lillah uns verlassen hat. Er schafft es nicht, sich aus der Zange zu befreien, die mein verletztes Herz umschließt. Er wirbelt endlos tief in mir und nimmt zu, jedes Mal wenn er fragt: "Schaut mich an, schaut mich an, es tut so weh, so weh". Manchmal verwandelt er sich in Tränen und gibt mir eine kurze Pause. Aber dieser Schrei weiß, dass er die Kraft hat, das Untragbare, das Undenkbare auszudrücken. Er weiß, dass er in der Lage ist, die schmerzliche Maske zu zerbrechen, die ich aus Angst, verrückt zu werden, trage. Und der Kampf tobt zwischen dem Ausdruck dessen, was mich quält, und dem stillen Leben gegenüber der äußeren Welt. Aber der Preis für dieses Schweigen ist hoch. Der Kampf quält mich genauso wie das Fehlen meiner Tochter. Und der wütende Schrei verdoppelt seine Kraft und sucht einen Weg, die so eng um mein ersticktes Herz und meine Liebe zum Leben geschlungene Zange zu brechen. Also singe ich ohne Worte, diese Melodie, die mich neun Monate lang begleitet hat und mir beigebracht hat, das Göttliche in mir zu erkennen. Ich singe mit der Kraft, die ich benötigte, um den Tod auf die Welt zu bringen, der bereits so früh nach ihrem kleinen Körper verlangte. Und ich bereite den Weg mit Sanftheit, Kraft und Liebe vor; mit jeder Note, die entweicht, um endlich diesen Schrei zu befreien, der den unerträglichen Verlust so gut ausdrückt: "NEIN! NEIN, DAS IST NICHT WAHR". Aber wie jeder Tag mich der Realität gegenüberstellt, der Wahrheit, mit der ich lebe. Ich schreie zurück: "JA, SIE IST GESTORBEN, ES IST WAHR. JA, ES IST WAHR!" Und ich spüre, wie sich die Zange ein wenig lockert, von Tränen überflutet. Was ich hinter dem Schmerz entdecke, überrascht mich. Es ist nicht der Wahnsinn, wie ich es für möglich hielt. Aber ich entdecke die Essenz von Lillah Melodie. Eine tiefe Wahrheit, die mein Leben für immer verändern wird. Eine sprechende Wahrheit, die meine Schritte für immer leiten wird. Eine Wahrheit, die ich nicht ignorieren darf. Und diese Wahrheit ist aus der Liebe einer Mutter zu ihrer Tochter geboren, die ihr die göttliche Liebe bekannt gemacht hat.

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